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Richtig atmen Den Atem steuern - und mit ihm heilen

Frau macht Atemübungen
Atmen ist Leben, vom ersten Schrei bis zum letzten Hauch. Doch wir holen nicht nur Luft, wenn wir Luft holen
© Photographee.eu / Fotolia
Wir atmen meist, ohne darüber nachzudenken. Doch wenn wir lernen, das Luftholen bewusst zu steuern, kann der Atem Körper und Geist heilen

Ich wollte mit Thomas Loew ein Telefoninterview führen. Nun atme ich in den Hörer, am anderen Ende der Leitung hört niemand zu. Ich solle immer weiteratmen, hatte Loew gesagt, vier Sekunden ein, sieben Sekunden aus. Er müsse mal eben etwas bei der Hauspost abgeben.

Vor unserem Gespräch hatte Loew mich gebeten, eine App auf mein Handy zu laden, einen Stress-Check. In seinem Labor an der Universität Regensburg nutzt der Professor für Psychotherapie Geräte, die Zehntausende Euro kosten, um zu untersuchen, was der Atem kann. Zur Ferndiagnose genügt auch das Smartphone.

Die App misst über einen aufgelegten Finger an der Fotolinse minimale Schwankungen meines Herzschlages. Die „Herzratenvariabilität“ verrät, wie gestresst ich bin. Die App zeigt null Prozent für tiefenentspannte Menschen. 100 Prozent sind das Maximum – also Vollstress.

Ich fühlte mich nicht gestresst. Trotzdem zeigte der erste Test 58 Prozent an. Das Handydisplay meldete: „Sie befinden sich im Alarmzustand.“ Fehlte nur noch, dass ein rotes Lämpchen blinkt.

Also weiteratmen, betont langsam.

Atem viel mehr als ein Stresskiller?

Thomas Loew nennt das „entschleunigte Atmung“. Im Alltag atmen Menschen zehn- bis zwanzigmal pro Minute ein und aus. Nach Loews Methode – vier Sekunden ein, sieben Sekunden aus – sind es etwa sechsmal. Er nutzt einen Reflex des Körpers. Ihm wird eine entspannte Situation ähnlich dem Tiefschlaf vorgegaukelt – und er glaubt es.

Als Loew nach einigen Minuten von der Poststelle zurückkehrt und ich wieder meinen Finger auf die Fotolinse lege, ist mein Stresslevel auf 21 Prozent gesunken.

Wirklich überraschend ist diese kurze Übung am Telefon nicht. Schließlich empfiehlt Volkes Mund bei Hektik, Wut und Lampenfieber: tief durchatmen. Menschen wissen intuitiv, dass ein ruhiger Atem Körper und Geist beruhigt. Sie nutzen das schon lange. Im rhythmischen Gebet des Rosenkranzes, bei der Wiederholung eines Mantras im Hinduismus, beim Singen eines Wiegenliedes.

Thomas Loew verweist darauf, dass die entschleunigte Atmung positiv auf Bluthochdruck und Panikattacken wirken kann. Außerdem soll sie Patienten mit Migräne, Lungenerkrankungen oder Asth­ma das Leben erleichtern. Folge- und Langzeitstudien fehlen noch weitgehend. Aber die Ergebnisse liefern Hinweise dar­auf, dass der Atem viel mehr ist als ein Stresskiller.

Die ganze Atemreise

Forscher Thomas Loew und Trainerin Marie-Luise Waubert de Puiseau sind nur zwei Stationen der Atemreise von GEO-Redakteurin Diana Laarz. Um dem Atem auf die Schliche zu kommen, hat sie in ganz Deutschland Menschen getroffen, die ihn sehr genau beobachten. Die ausführliche Geschichte können Sie für 0,99 Euro als eBook erwerben.

Der Atem ist ein Lebensbegleiter. Vom ersten Schrei im Kreißsaal bis zum letzten Atemzug markiert er Anfang und Ende des Lebens. Wir können einige Zeit ohne Nahrung, Wasser und Licht überleben – aber nur wenige Minuten ohne Luft.

Wohl deshalb waren Menschen früh fasziniert von der Atmung. Ägyptische Grabinschriften preisen die „Heilkunst mit dem Atem“, die derjenigen mit „dem Messer“ oder mit „Pflanzensaft“ überlegen sei. Seit 3000 Jahren gehört die Atmung zu den Säulen des in Indien entstandenen Yoga. Der Buddha sagte: „So du zerstreut bist, lerne, auf den Atem zu achten.“

Heute greifen Mediziner und Therapeuten die Erkenntnisse der alten Meister wieder auf. Schritt für Schritt entschlüsseln sie die Geheimnisse der Atmung. Eines steht für sie fest: Zu lange wurde die Kraft des Atems unterschätzt. Er heilt Körper und Geist.

Ich atme aus und spreche dabei ein lang gezogenes S

Marie-Luise Waubert de Puiseau wäre beinahe Ärztin geworden, sie wurde aber stattdessen Schauspielerin und Musikerin. Im Moment trainiert sie den Atem anderer Menschen. Sie lockert die verkrampften Brustatmer, treibt die schlaffen Bauchatmer an. Bei Waubert de Puiseau habe ich meine ersten Stunde im Schwingen.

Wir stehen uns gegenüber. Die Lehrerin steht in Schrittstellung, ich mit beiden Füßen parallel. Sie greift nach meinen Händen, bittet mich zu pendeln. Einatmen, wenn ich mich nach hinten fallen lasse, ausatmen, wenn ich ihr entgegenschwanke. Marie-Luise Waubert de Puiseau ist meine Stütze. Sie hat viel mehr Kraft, als man ihr ansieht. Eine Dame von 60 Jahren.

Richtig atmen - so gelingt es!

Wir atmen ununterbrochen, ein Leben lang – und oft falsch. Dabei kann man richtiges Atmen einfach lernen

Vollatmung heißt die ideale Form der Atmung, bei der unser Körper die optimale Menge an Sauerstoff aufnehmen kann. Mit dieser Art zu atmen kann zum Beispiel Kopfschmerzen, Müdigkeit oder Konzentrationsschwäche vorgebeugt werden. Die Vollatmung besteht aus drei unterschiedlichen Atemarten: der Brust-, der Flanken- und der Bauchatmung. Diese drei Bausteine für eine gesunde Atmung lassen sich leicht trainieren:

Setzen Sie sich aufrecht auf einen Stuhl und atmen Sie ruhig ein und wieder aus. Legen Sie nun eine Hand auf die Brust. Achten Sie auf das Heben und Senken des Brustkorbs. Wichtig ist, dass Sie in den unteren Brustkorb atmen, das heißt, Sie sollten ihn bei der Einatmung nicht senkrecht nach oben ziehen oder gar die Schultern zu Hilfe nehmen.

Legen Sie die Hand nun auf den Bauch. Bei den meisten Menschen bewegt er sich während des Atmens nicht – sollte er aber, und zwar in die richtige Richtung: Beim Einatmen nach außen, beim Ausatmen nach innen. Atmen Sie bei der Einatmung also bewusst gegen Ihre Hand an.

Zuletzt legen Sie die Hände links und rechts auf die Flanken, sodass Sie noch die unteren Rippen ertasten können. Atmen Sie nun erneut gegen Ihre Hände an und spüren Sie, wie sich die Rippen nach außen schieben. So wird gewährleistet, dass sich die Lunge auch seitlich ausdehnt und mehr Sauerstoff aufnehmen kann.

Wiederholen Sie die Übung so lange, bis sich mit jedem Atemzug der gesamte Rumpf mit Brustkorb, Bauch und Flanken bewegt. Nehmen Sie sich auch im Alltag immer wieder einmal die Zeit, um zu kontrollieren, ob Sie wirklich mit der Vollatmung atmen.

Ich schwinge. Mal mit weit geöffneten, mal mit eng am Körper liegenden Armen. Ich atme aus und spreche dabei ein lang gezogenes S. „Einatmen, Ausatmen, Pause.“ Das Büro wird mit den Minuten immer größer. Als Waubert de Puiseau mich loslässt und ich nicht mehr schwanke, ist es, als würde in mir etwas weiterschwingen.

Marie-Luise Waubert de Puiseau ist Studienleiterin an der Schule Schlaffhorst-Andersen im niedersächsischen Bad Nenndorf. Weiße Bänke unter einem altersgebeugten Apfelbaum auf dem Hof, gedämpfte Chorstimmen auf den Fluren. Eine Idylle. Hier werden seit 1984 staatlich geprüfte Atem-, Sprech- und Stimmlehrer ausgebildet.

So wie Grundschüler das Einmaleins, so lernen die Schüler in Bad Nenndorf das Schwingen. Im ersten Semester schwingen die Lehrer die Schüler, jeden Tag. Später schwingen die Schüler sich untereinander.

Atmung, Stimme und Bewegung greifen ineinander

Erfunden haben es die Gründerinnen dieser Methode, Clara Schlaffhorst und Hedwig Andersen. Schlaffhorst, Sängerin mit schwächelnder Stimme, und Andersen, Pianistin mit schwächelnder Lunge, erhielten 1895 von einem Königsberger Arzt die Diagnose: „Meine Damen, Sie atmen falsch!“ Das war der Beginn zweier lebenslanger Leidenschaften.

In den Turbulenzen zwischen den beiden Weltkriegen entwickelten Schlaffhorst und Andersen ihr Therapiekonzept. Der Kernpunkt: Atmung, Stimme und Bewegung sind drei Zahnräder, die ineinandergreifen. Wer deutlich spricht, atmet rhythmischer. Wer richtig atmet, lo­ckert seine Muskeln. Wer entspannt ist, hat mehr Volumen in der Stimme.

Die Übungen, die die beiden Frauen erdachten, klingen denkbar einfach. Die Wirkung allerdings überraschte. Schlaffhorst und Andersen ge- standen in ihrem 1928 veröffentlichten Werk „Atmung und Stimme“ freimütig ihr Staunen ein: „Wir erlebten bei uns () Umsturz auf allen Gebieten; ­zuerst gesundheitlich, körperlich. () Konzen­trationsfähigkeit, Gedächtniskraft, Lebensmut, Selbstvertrauen, sogar Produktivität entwickelten sich.“

Atem als Verbindung zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein

Der Atem, ein Alleskönner? Wissenschaftler sind der Lösung dieses Rätsels in den vergangenen 100 Jahren viel näher gekommen. Sie identifizierten den Atem als Verbindung zwischen dem menschlichen Bewusstsein und dem Unbewusstsein.

Denn der Mensch denkt meistens nicht über das Atmen nach, er tut es einfach. Die Atmung wird vom vegetativen Nervensystem gesteuert, genauso wie Herzschlag und Verdauung. Wie ein Seismograf registriert das Nervensystem Bewegungen und Gefühle und passt die Atmung an, je nach Energiebedarf. Bei körperlicher Anstrengung oder Angst beschleunigt sich die Atmung. Sie kann bei einem Schreck aussetzen. Sie wird langsamer, wenn wir uns entspannen oder schlafen.

Die Sprache hat für diese Zusammenhänge unzählige Bilder geschaffen. Es verschlägt einem vor Schreck den Atem, etwas ist atemraubend schön, jemand hat keine Zeit zum Luftholen oder eben einen langen Atem.

Was den Atem von allen anderen ve­getativen Funktionen unterscheidet: Die Menschen können ihn bewusst beeinflussen. Wir können dem Herzen nicht befeh­len, langsamer zu schlagen. Wir können vom Magen nicht verlangen, die Verdauung einzustellen. Aber wir können beschließen, langsamer oder schneller zu atmen. Der Atem schlägt also eine Brücke, weil er willkürlich beeinflusst, was sonst unwillkürlich geschieht.

Es ist ein einzigartiger Vorgang im menschlichen Körper.

So lässt sich die Wirkung der entschleunigten Atmung von Thomas Loew erklären, der mich am Telefon dazu aufgefordert hatte, langsamer zu atmen. Atem und Herzfunktion sind eng miteinander verbunden. Schlägt das Herz schnell, beschleunigt sich unwillkürlich auch die Atmung. Umgekehrt: Beim bewusst langsamen Atmen sinken Puls und Blutdruck. Allein durch seinen Willen kann ein Mensch das nicht erreichen. Benutzt er den Atem als Brücke, schafft er das.

Dies ist eine gekürzte Fassung der GEO-Titelgeschichte "Atmen" - das Heft können Sie hier direkt bestellen.

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